Gespräch

Christian Thieme (CDU) ist Oberbürgermeister der Stadt Zeitz. Der gebürtige Hamburger vertritt seit knapp zweieinhalb Jahren das höchste Amt der Stadt. Seine Familie ist dabei immer hier verwurzelt gewesen. Sein Ururgroßvater Hermann Thieme war Kommerzienrat und zeitweise Inhaber der Seifenfabrik Oehmig & Weidlich, welche später zum VEB Zitza wurde. Nach der Enteignung des Betriebes im Jahre 1952 ging die Familie nach Hamburg, kehrte aber teilweise Anfang der 90er in die Stadt zurück. Christian Thieme wohnt seit der Amtsübernahme wieder vor Ort. Ich traf ihn für ein Gespräch zur aktuellen Lage in Zeitz.

Herr Thieme, in verschiedenen Publikationen wurde Zeitz als Geisterstadt bezeichnet. Was kann man diesen negativen Einschätzungen entgegenhalten?

Woran sieht man, dass sich die Stadt seit 5 Jahren in eine positive Richtung bewegt?

Wenn man die Folgen der Deindustrialisierung nach der Wende betrachtet, den Leerstand und den Verfall, ist viel getan worden, diesen Missstand zu beseitigen. Das ist natürlich mit Abriss verbunden, aber was will man denn tun. Da sind wir nämlich genau beim Stichwort Geisterstadt: Wenn man nichts zurückbauen würde, vor allem Wohnungen und Wohnhäuser – die Forderung besteht ja häufig darin, dass man diese erhält und saniert – würde man Wohnungen und Häuser erhalten und sanieren für Menschen, die gar nicht mehr da sind. Dann würden da ganz viele leere Häuser stehen. Wir hatten einmal 48.000 Einwohner. Dann wäre es wirklich eine Geisterstadt, weil niemand in diesen Häusern wohnt. Es ist ein Teil dieser Anpassung an eine geringere Einwohnerzahl, dass man eben auch Wohnimmobilien zurückbaut beziehungsweise abreißt.

Wie ist die Bevölkerungsentwicklung einzuschätzen? Kam es durch die Flüchtlingskrise zu einem Zuzug für Zeitz? Im Stadtentwicklungskonzept von 2010 sind diese Entwicklungen noch nicht erfasst.

Ich kenne jetzt keine aktuellen Zahlen, aber soweit ich das vor Augen habe, hatten wir zu Höchstzeiten 800 Flüchtlinge. Nach dem Auflösen der Sammelunterkünfte wurden die Flüchtlinge auf verschiedene Wohnimmobilien verteilt. Das ist kein erheblicher Einfluss auf die Zahlen gewesen. Wir sind immer noch eine schrumpfende Kommune. Daher ist das Ziel eigentlich auch, dass man mal über 30.000 kommt. Aber wir sind unter 29.000 und sinken immer noch. Die Flüchtlinge haben dabei keinen ernsthaften Effekt gehabt.

Stichpunkt die Stadt attraktiv machen: Wie schafft man es, dass einerseits wieder Leute nach Zeitz ziehen, der Zuzug erhöht wird, und andererseits die in Zeitz wohnenden Menschen zu halten?

Die Werbung der Stadt für sich selbst fängt bei den Bürgern an. Mir ist persönlich wichtig, dass die Bürger den zutreffenden Eindruck gewinnen, dass es in der Stadt wieder bergauf geht, dass sie lebenswert ist, wir hier viel zu bieten haben. Die Identifizierung mit der Stadt ist ganz wichtig. Deshalb richtet sich die Stadt auch familienfreundlich aus. Unsere Chance besteht natürlich grundsätzlich darin, wieder Industrie und Gewerbe anzusiedeln, ebenso aber, im Sinne der Schaffung von Arbeitsplätzen bestehende Industrie und Gewerbe beim Wachsen zu unterstützen. Es besteht dann immer die Hoffnung, dass mit diesen Arbeitsplätzen auch Einwohner kommen oder zumindest die vorhandenen Einwohner profitieren können. Wobei es deutschlandweit den Trend gibt, dass junge Leute in die Großstädte ziehen. Ob man als kleine Kommune etwas dagegen tun kann? Vielleicht, indem man sich selbst attraktiv und liebenswert hält, die Identität mit der Region stärkt. Wir profitieren natürlich auch von der allgemeinen guten wirtschaftlichen Entwicklung, sodass die Leute keine Veranlassung haben, wegzugehen, jedenfalls nicht wegen Arbeitsplätzen. Die Arbeitslosenquote ist hier auf bis zu 7,4% gesunken, wir waren mal bei weit über 25%. Wovon wir sehr profitieren wollen, ist die Nähe zu Leipzig. Wir träumen hier immer von der S-Bahn, nicht nur von dem Anschluss von Zeitz an Leipzig, sondern ein mitteldeutsches S-Bahn-Netz zu installieren, was vom Oberzentrum Gera aus Gera mit Leipzig und Gera mit Halle verbindet. Zeitz liegt auf der Strecke Gera-Leipzig und Gera-Halle. Wir haben heute das Problem des Fachkräftemangels. Ich halte es schon für interessant, wenn man die Oberzentren aus diesem Grund miteinander verbindet. Vor allem, wenn neben Leipzig auch Halle mit Zeitz verbunden wird, weil dort viele Mittelzentren auf dem Weg liegen: Merseburg, Weißenfels, Leuna – Städte, wo Arbeitsplätze vorhanden sind oder wo Leute wohnen, die Arbeit suchen könnten, Fachkräfte sozusagen. Erst recht, Stichwort Metropolregion Mitteldeutschland, in Zusammenhang mit dem Braunkohlestrukturwandel. Dies ist auf der einen Seite etwas, was die Wirtschaftskraft dieser Region bedroht, weil weitere Arbeitsplätze wegfallen könnten. Man spricht hier von 2-3.000 Arbeitsplätzen direkt in der Region. Die Wirtschaftskraft und das Arbeitskraftpotential müssen ersetzt werden, weil es sonst ähnlich wie im Zuge der Deindustrialisierung wieder einen Aderlass gäbe, den wir ungern haben wollen und nur schwer verkraften würden. Das Potential liegt im Grunde genommen darin, am Stadtimage zu arbeiten, die Nähe zu Leipzig noch mehr zu nutzen, die Wirtschaft auszubauen, den Strukturwandel für sich zu nutzen und nicht zuletzt über diese Vernetzung des S-Bahn-Netzes das Thema Mobilität mehr zu bespielen. Wir sind weniger interessant für Jugendliche, die gehen weg, aber für Familien mit Kindern sind wir definitiv interessant. Das sind die Dinge, auf die man bauen muss.

Bogen zurück zur Deindustrialisierung: Wie wurde und wird mit den Gebäuden ehemaliger Volkseigener Betriebe (VEB) verfahren?

Wie überall war erstmal die Treuhand im Spiel, hat verwaltet und sich bemüht, die Gebäude an den Mann zu bringen. Nicht immer mit Erfolg. Wir sehen das an Zeitz. Viele Betriebe konnten nicht erhalten werden. So standen zahlreiche Gebäude lange Zeit leer, stehen immer noch leer oder wurden abgerissen. Wir haben hier verschiedene große Gebäude, die auch stadtbildprägend waren. Die sogenannte Piano-Union am Schützenplatz war ein riesiger Bau, wo Pianos hergestellt wurden. Das Areal ist 1996 weggerissen worden in der Hoffnung, dass etwas Anderes entsteht. Im Zusammenhang mit der Landesgartenschau 2004 wurde das Gebäude der Oettler Brauerei abgerissen, die Wäscheunion ebenfalls, letztere wurde in ein schönes Gelände umgewandelt. Weitere wie die Eisengießerei Rasberg wurden auch entfernt. Aber es gibt etliche Gebäude, die immer noch so dastehen. Es wird stetig versucht, irgendetwas damit zu machen. Es ist aber wahnsinnig teuer und letztendlich unwirtschaftlich. Diese Gelände gehören der MDSE. Das ist eine Gesellschaft des Landes Sachsen-Anhalt, die sich mit Gelände auf belastetem Boden befasst. Das kann aber kein Dauerzustand sein. Es gibt außerdem Gebäude, die irgendwann in Privathand gekommen sind. Die Betriebe sind meist pleite gegangen und mit den Gebäuden ist im Anschluss nicht viel passiert. Sie sind dann weitergereicht worden. Teilweise gelingt es, diese Gebäude wiederzubekommen, aber das ist eben schwierig. Zetti, die Fabrik der Knusperflocken, verfällt weitestgehend, abgesehen von einem ganz kleinen Nutzungsbereich. Zitza, eine Schokoladen- und Seifenfabrik, genauso. Sie ist im Besitz einer Gesellschaft, die die Sanierung nie stemmen wird.

Bilder unten: Sammlung Monika Jürgens-Winefeld, Europäisches Flakonglasmuseum, www.ddr-duftmuseum-1949-1989.de

Zekiwa allerdings gehört der Stadt. Wir hatten das Glück, Fördermittel aus dem Europäischen Fond für regionale Entwicklung zu erhalten. Auch Hochwassermittel werden verwendet werden, um dieses Gebäude, das Hauptgebäude, zu sanieren. Dort wird dann in den oberen Stockwerken das Stadtarchiv einziehen, was gleichfalls dem Förderzweck entspricht. Das Nebengebäude mit übrigens ebenfalls sehr schöner Fassade gehört auch der Stadt. Hierfür gibt es noch keine Nutzung. Wir sind auf der Suche und hatten Interessenten, die aber leider abgesprungen sind. Damit das Ganze wirtschaftlich ist, soll der untere Teil von Zekiwa eine gewerbliche Nutzung bekommen. Das ist soweit beschlossen und finanziert. Dass gerade das Zekiwa Gebäude – hier wurde die deutsche Kinderwagenindustrie begründet – saniert und einer Nutzung zugeführt wird, ist bedeutend. Es ist auch ein wichtiger Teil unserer Stadt- und Industriegeschichte und somit Stadtidentität. Aus Stadtsicht ist es natürlich der Idealfall, wenn sich jemand findet, der die Objekte kauft, wenigstens teilsaniert und dann wieder einer Nutzung zuführt. Die Schwierigkeit besteht aber unter anderem darin, die bisherigen Eigentümer davon zu überzeugen, dass sie das Objekt verkaufen sollten.

Das Zekiwa-Hauptgebäude und baldige Stadtarchiv heute
Für das Nebengebäude wird noch nach einer Nutzung gesucht
Einst lief die Produktion hier auf Hochtouren / Bild: Digital-Elektronik Arbeitsgemeinschaft Halle

Vor knapp 1,5 Jahren haben Sie sich in der Mitteldeutschen Zeitung zur Rahnestraße geäußert. Wie ist der aktuelle Stand?

Die Rahnestraße ist mein persönlicher Ehrgeiz. Die Straße ist aber wirklich eine Strafe für die Stadt, weil sie genau auf dem Weg in die Innenstadt liegt. Es hinterlässt einen verheerenden Eindruck sowohl bei Leuten, die hier wohnen, als auch Besuchern. Für mich ist das eigentlich eine Top Wohnlage: Innenstadtnah, Westausrichtung, man kann auf das Schloss schauen, hat jeden Abend Sonnenuntergang, hat einen weiten Ausblick und Gärten mit Platz dahinter. Eigentlich. Tagsüber hat man allerdings einen starken Verkehr durch die B180, wobei wir uns bemühen, diese aus der Stadt zu holen, weil sie zu viel Lärm und Dreck macht. Die Straße hat eine gewisse Abwärtsspirale hinter sich. Wir sind mit vielen Eigentümern in Kontakt und bemühen uns um individuelle Lösungen für jede Immobilie. Wobei ein Großteil einem Besitzer gehört, der erklärtermaßen nichts damit tun möchte. Da ist kein Rankommen, auch nicht über Fördermittel, ganz schwierige Geschichte. Das Ärgerliche ist eigentlich, dass es überhaupt keine wirtschaftlichen Ursachen hat, dass es so aussieht. Bei einigen Eigentümern zwar schon, weil es eine unbeliebte Wohngegend ist, was die Investitionen unwirtschaftlich macht, aber ein ganzer Straßenzug wäre einem Investor einfacher zu vermitteln als einzelne Gebäude in einer weniger schönen Umgebung. Wir haben dort viel unternommen. Wir haben alle Register gezogen, die man ziehen kann. Die Mittel sind letztendlich relativ begrenzt. Man kann niemanden zwingen, seine Immobilie zu sanieren. Es gibt zwar Instandhaltungsgebote, aber die funktionieren eben nur, wenn die Umgebung stimmt. Hier stimmt die Umgebung nicht. Wir können bauordnungsrechtlich etwas machen, das tun wir auch. Immer, wenn eine Gefahr von den Gebäuden ausgeht. Wir tun auch denkmalschutzrechtlich einiges, aber das Denkmalschutzrecht ist ein relativ stumpfes Schwert mit allen möglichen Erhaltungspflichten, welche sich auf die Substanz und nicht auf die Optik beziehen. Enteignung und Betretungsrechte sind Dinge, die man auch erstmal durchsetzen muss. Hier ist das Eigentumsrecht als Grundrecht hoch geschützt. Wir vollstrecken letztendlich in Einzelfällen, haben auch schon Zwangsvollstreckungen beantragt. Es gibt Verfügungen über Instandhaltungen, denen bislang nachgekommen wird. Aber immer nur so, dass das Notwendigste getan wird und nach mehrmaligem Auffordern. Das ist mühsam und langwierig. Man kann nur darauf hoffen, dass sich das Baurecht irgendwann durchsetzt, weil das Haus einen bedrohlichen Zustand erreicht hat. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir da früher oder später etwas erreichen werden. Es ist eine Aufgabe.

Welche Potenziale sehen Sie ganz aktuell in der Stadt?

Ich bin seit dem 1. Mai 2016 Oberbürgermeister der Stadt Zeitz und wohne seitdem auch hier in der Stadtmitte. Ich sehe ganz deutliche Potenziale der Stadt. Die Zeit der Nachwendedepression ist definitiv vorbei, es geht seit Jahren bergauf. Die Bürger entdecken die Perspektiven der Stadt. Gerade die jüngere Generation will einfach, dass es bergauf geht und engagiert sich sichtbar im Stadtbild. Wir haben dadurch Potenziale, dass die Wirtschaft wächst, auch hier vor Ort, auch große Arbeitgeber. Die Arbeitslosenquoten gehen runter, das Arbeitsplatzangebot wird immer größer. Wir wollen von der Nähe zu Leipzig und unserer allgemeinen geografischen Lage im mitteldeutschen Raum zwischen Jena, Leipzig und Halle profitieren. Wir träumen vom mitteldeutschen S-Bahn-Netz. Wir hoffen, vom Braunkohlestrukturwandel zu profitieren, dass vor Ort wieder mehr Industrie angesiedelt wird. Dazu bedarf es einer gewissen Förderung von Innovation. Wir sehen ein Potenzial in der Stadt selbst, die durchaus reizvoll ist, die viele schöne Ecken hat, viel Natur. Wir sind attraktiv für junge Familien mit Kindern, gerade aus den umliegenden Großstädten. Wir bauen stark auf Kunst, Kultur und in diesem Zusammenhang vor allem auf Kreativwirtschaft. Auch das ist etwas, das aus Leipzig immer mehr herdrängt. Wir hatten in letzter Zeit eine rege Online-Berichterstattung zu dem Thema, unter dem Motto: ‚Wird die Geisterstadt bald zur Konkurrenz fürs hippe Leipzig?‘ Das ist ein Aspekt, den wir versuchen ganz stark auszuspielen. Denn das ist wahrscheinlich der goldene Weg: Kreativwirtschaft hier vor allem in leerstehende alte Industriegebäude zu bringen und damit wieder neue Nutzung und folglich beleuchtete Fenster in vielen Bauwerken zu sehen. Das ist eine wirkliche Chance und damit macht sich die Stadt insgesamt auch einfach attraktiver und jünger. Das kann alles nur gut sein. Von daher bin ich guter Dinge.

Vielen Dank für das Gespräch.