Magazin

Reiner Eckel ist einer dieser Menschen, auf die man schnell aufmerksam wird, wenn man sich mit der Stadt auseinandersetzt. Der 65-jährige betreibt eine Art Stadtmagazin im Internet. Hier werden viele Themen behandelt, die die Zeitzer bewegen. Die Seite selbst ist dabei eher aus einer Not heraus entstanden.

Seit 2008 beschäftigt er sich intensiv mit der Außendarstellung der Stadt. Erscheinungsbild, Stadtmarketing und Internetpräsenz – all das hält er für wenig attraktiv. Seine Gespräche mit der Stadtverwaltung bezüglich geplanter Konzepte konnten ihn nicht überzeugen, weshalb er 2011 eine zunächst übergangsweise geplante Seite startete. Hierfür wollte Reiner Eckel eigentlich ein Team zusammenbekommen. Derzeit schreibt neben ihm noch Philipp Baumgarten vom Kloster Posa Beiträge, womit sie nur zu zweit an der Seite arbeiten. Aber der Spaß überwiegte und inzwischen sind 14-17.000 Seitenaufrufe je Monat zu verzeichnen und zeitzonline.de hat die ursprünglich angedachte Lebenszeit von zwei bis drei Jahren überdauert. Seitdem haben sich auf über 80 Seiten mehr als 1.600 Beiträge angesammelt.

Das Stadtmagazin

Auf diese Weise will Reiner Eckel dem seiner Meinung nach müden Erscheinungsbild der Stadt etwas entgegensetzen. Denn: Es gibt zwar viel Leerstand und Verfall, eine Geisterstadt ist Zeitz aber keineswegs. Man blickt nicht nur auf eine reiche Bau- und Stadtgeschichte zurück, sondern hat auch ein reges Kulturleben. Hier will er ansetzen und Interessantes zeigen, Missstände aber auch kritisch anmerken. Dass die Seite damit einhergehend im Grunde ein Meinungsmedium ist, lässt sich nicht bestreiten.

Über den Ursprung von zeitzonline

Motivation und Probleme

Der Weg nach Zeitz

An seinen ersten Tag in der Stadt erinnert sich der gebürtige Köthener noch ganz genau. Auf der Suche nach Arbeit kam er 1974 in die Stadt, welche Beschäftigung im Hydrierwerk und damit verbunden eine Wohnung bot.

„Den ersten Tag in Zeitz werde ich nie vergessen. Ich bin am Bahnhof ausgestiegen und wollte zum Bewerbungsgespräch fahren. Also fragte ich, wie ich zum Hydrierwerk komme. ‚Na, da nimmst du den Krankenbus!‘. Oh Gott, dachte ich, sind denn hier alle krank? Hier bleibst du nicht lange.“

Es kam anders. Der Krankenbus bedingte sich nur durch die in der Nähe gelegene Klinik. Er lebte sich schnell in die Strukturen der Stadt ein und arbeitete zunächst als Schlosser und Schweißer im Werk, welches für die Erdölverarbeitung neu gebaut worden war. Dafür wurden Arbeitskräfte gesucht und eine Wohnung geboten. Besonders letzteres war damals schwer zu bekommen. Es war der größte Betrieb in der Region. „Dann kam die Wende…und alles änderte sich.“ Plötzlich gab es Mitbestimmung. Reiner Eckel wurde hauptamtlich Betriebsrat, später dessen Vorsitzender. Als er erstmals die Geschäftszahlen sah, war der Schock groß. Im Grunde wäre es billiger gewesen, den Betrieb ohne Produktion einfach weiter laufen zu lassen und nichts mehr zu verkaufen. Mit jeder Tonne wurde Minus gemacht. Dann kam die Treuhand und wollte die Anlage schließen und stehenlassen. Eine Entwicklung war laut Eckel nicht gewollt. Es begann ein zäher Kampf für den Industriestandort, um das Geld zum Abriss alter und Erschließung neuer Anlagen. Schwierig war es auch, den Menschen beizubringen, dass es mindestens 10 Jahre dauern würde, bis wieder etwas steht.

Die Arbeit als Betriebsrat war eine prägende Zeit für den gebürtigen Köthener. Jedes Jahr mussten viele Angestellte entlassen werden. „Niemand war auf die Situation vorbereitet. Aber wie das ertragen wurde, war beachtlich“, erinnert er sich heute. Keiner hatte eine Vorstellung davon, wie es war, drei Jahre arbeitslos zu sein. Dem Denken nach würde es schon irgendwie weitergehen, irgendetwas Neues kommen. Doch so war es diesmal nicht. Durch den Betriebsrat konnten im konkreten Fall zumindest Mittel für Sozialpläne, eine Abfindung und Tarifgesellschaften ausgehandelt werden. Manche der Angestellten blieben und arbeiteten unter Tarifvertrag am Abriss der Anlagen. Für andere Zeitzer Standorte gelang eine solche Lösung nicht:

„Bei anderen wie der VEB Zitza gab es 500 DM und das wars. Es hat überall gekracht, innerhalb von drei, vier Jahren gab es eine Unterbeschäftigung von 55%, also arbeitslos oder in Maßnahmen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, was da eigentlich passiert ist.“

Am 30.06.1996 hat er dann sozusagen als Letzter das Hydrierwerk zugeschlossen. Ohne zu wissen, was am nächsten Tag ist.

Von heute auf morgen

Er kennt viele, die nach dieser Zeit kein Bein mehr auf die Erde bekommen haben, nie wieder so richtig in einen Job reingekommen sind. Das Frustpotential war groß, ganze Familien haben in den Betrieben gearbeitet. Plötzlich war es vorbei und viele wussten gar nicht, wohin mit sich. Das Hydrierwerk konnte letztendlich neu entwickelt werden. Die reinen Produktionsanlagen wurden komplett abgerissen, sodass einige durchaus wieder dort beschäftigt werden konnten. Der überwiegende Teil musste allerdings entlassen werden. Diese Situation betraf ganz Zeitz. Von 23.000 Industriearbeitsplätzen sind heute nur noch höchstens 6.000 verblieben. 1987/88 waren es 4.400 Beschäftigte im Hydrierwerk, der Kinderwagenhersteller Zekiwa hatte 2.000, der Maschinenhersteller Zemag fast 2.500 Angestellte. Sechs Jahre später gab es diese Betriebe und Arbeitsplätze nicht mehr, ein unfassbarer Struktureinbruch hatte Zeitz ereilt. Der ehemalige Betriebsrat wundert sich bis heute, dass es so wenig Widerstand durch die Bevölkerung gab. Vielleicht war das auch bezeichnend für die Region. 4.000 Kündigungen wurden im Werk ausgesprochen, aber kaum Gegenwehr. Mit der Treuhand als Gesellschafter wurden nach der Wende Sozialpläne erkämpft, die Schließung des Betriebes ließ sich allerdings nicht verhindern. „Am Ende war es trotz der bitteren Entwicklung eine vernünftige Lösung. Das mit den Kündigungen hat mich trotzdem schon sehr bewegt. Es gab auf einmal flächendeckend hohe Arbeitslosigkeit, aber man hatte nun mal seine Wurzeln hier. Für meine persönliche Entwicklung war das eine ganz wichtige Erfahrung.“

Vom VEB Zemag ist heute nur noch eine Werbetafel geblieben

Für Reiner Eckel ging es nach der Zeit beim Hydrierwerk recht ungewöhnlich weiter. Während der Jobsuche wurde ihm vorgeschlagen, für die SPD im Landtag zu kandidieren. Als ehemaliger Betriebsrat hatte man zu der Zeit nicht nur Freunde. Dennoch wurde er gewählt und war 1998 bis 2002 Landtagsabgeordneter und wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion. Im Grunde ebenfalls zufällig zustande gekommen arbeitete er danach beim Qualifizierungsförderwerk Chemie GmbH Halle in unterschiedlichen Projekten der Öffentlichkeitsarbeit und des Marketings. Hierauf folgten Tätigkeiten für eine kleine Ingenieursgesellschaft, wo er zurzeit noch als Minijob im Vorruhestand tätig ist. Im Februar nächsten Jahres ist er dann richtig Rentner.

Engagiert in die Zukunft

Das ehemalige Hydrierwerk ist heute der Chemie- und Industriepark Zeitz mit 50 Unternehmen und 1000 Arbeitsplätzen. Das ist zwar kein Vergleich zu früheren Zahlen, aber der Ort wird wieder industriell genutzt und bietet Arbeit.

Die meisten anderen Großbetriebe hinterließen nur ihre Gebäude. Mit dieser Entwicklung hat die Stadt noch heute zu kämpfen. Dazu ist die Bevölkerung überaltert, weil junge Menschen den Ort zumeist verlassen. Städte wie Naumburg und Weißenfels stehen trotz ebenfalls erheblicher Einbrüche inzwischen besser da. Vor allem erstere scheint einiges richtig zu machen. Allerdings kamen in Zeitz auch eine Menge Faktoren zusammen.

„Es war schon ein bisschen viel, was hier zusammenkam, das darf man nicht verleugnen. Wenn Sie in sechs Jahren 20.000 Industriearbeitsplätze verlieren und den Kreisstadtsitz abgeben, das ist auch nicht ganz unbedeutend. Es musste jedem klar sein, dass wir Generationen brauchen, um diesen Substanzverlust auch nur annähernd auszugleichen.“

Naumburg wurde 1994 Kreisstadt und konnte unter anderem mit dem Ausbau des kulturellen Angebots wieder an Attraktivität gewinnen. Reiner Eckel sieht auch in den vergangenen Entscheidungen der kommunalen Selbstverwaltung einen Grund für die Entwicklung. Nach der Wende fehlte demnach die Ausweisung stadtnaher Flächen für junge Bauwillige, welche dann in den umliegenden Dörfern suchten oder ganz wegzogen. Außerdem gab es überdimensionierte Handelsflächen in der Peripherie, die in keinem Verhältnis zur Kaufkraft standen. Die Marke Zekiwa gibt es zwar noch, aber sie hat ihren Sitz nicht mehr in Zeitz. Man könnte heute noch die Stadt der Kinderwagen sein, hier wurde die industrielle Kinderwagenproduktion geboren. Die Stadt konnte das traditionelle Unternehmen aber nicht halten. Zwar gibt es noch das Kinderwagenmuseum, die Firma und Marke sind aber nicht mehr vor Ort. Zusätzlich wurde seiner Meinung nach zu oft ‚Mut zur Lücke‘ gezeigt. Stadtprägende Gebäude wurden ohne Anschlusslösung weggerissen. „Irgendwann ist der Charakter weg. Es gibt die Neigung: lieber weg, als Ruine, lieber Parkplatz als Schandfleck.“ Er hält das für einen Fehler. Ob sich das irgendwann rächt, weiß man nicht.

Seit etwa sechs Jahren erlebt der Zeitzer allerdings eine Trendwende. Die Innenstadt wurde durch Geschäftseröffnungen und Existenzgründungen belebt. Aktuell gibt es mehr Zu- als Wegzüge, auch wenn die Bilanz im Saldo aufgrund der Überalterung noch immer negativ ist. Stadtnah bauen junge Menschen an Wohneigentum und in verschiedenen Quartieren der Altbausubstanz sind Modernisierungsfortschritte erkennbar. Einige Initiativen zielen auf die Entwicklung der Kreativwirtschaft ab und moderne Industrieansiedlungen nebst industrienaher Dienstleistungen sind realisiert. Ebenso positiv wirkt die Quartiersentwicklung durch die Städtische Wohnungsbaugesellschaft. Ganze Straßenzüge werden nach historischem Vorbild saniert, fertige Objekte sind inzwischen voll vermietet. Darüber hinaus gehen die Arbeitslosenzahlen in der Stadt zurück, die Infrastruktur wurde verbessert. Im Bereich der Zuckerfabrik haben neue Ansiedlungen stattgefunden, auf Anfragen wurde seitens der Stadt schnell reagiert. Der Service hat sich verbessert, Genehmigungsverfahren laufen zügig ab und die Gesamtsituation ist inzwischen positiv. Aktuelle Herausforderungen der Stadt sieht der Betreiber von zeitzonline vor allem in zwei Bereichen: Dem Braunkohleausstieg und dem Image. Der sogenannte Braunkohlestrukturwandel bedroht erneut viele Arbeitsplätze, durch das richtige Vorgehen könnten sich hier aber wirkliche Chancen für die Region entwickeln. Das Image der Stadt leidet hingegen noch immer unter den Entwicklungen nach der Wende. „Wir müssen weg von diesem Verlierer- und Geisterstadtimage. Das können wir als Stadt nur selbst leisten. Es gibt neben Kultur und Tourismus kein anderes Wirtschaftsfeld, das wir als Stadt unmittelbar und direkt selbst beeinflussen können. Gerade hier gibt es Nachholbedarf. Sähe ich keine Chancen, wäre ich nicht so aktiv.“